05.04.2021

Goodbye große Schwester

Ich habe mir selber eingeredet auf diese Situation vorbereitet zu sein. Und nach knappen 1,5 Wochen kann ich eins sagen: Einen Scheiß war und bin ich. Am 25.3. bekam ich morgens erst eine Freundschaftsanfrage und dann eine Nachricht von einer Freundin meiner Schwester. Sie würde, seit gestern, versuchen meine Schwester zu erreichen. Anrufe gingen nicht durch und auch Nachrichten in Messengern blieben ungelesen. Mein letzter Kontakt mit ihr war am 20.3. Wir haben uns noch ein paar Nachrichten geschickt. Unter anderem ein Foto von den Eichhörnchen aus dem Garten des Mannes. Ich wusste, dass sich ihr Zustand verschlechtert hatte. Ihr Chirurg hatte gesagt, dass er operativ nichts mehr machen könnte und sie auf Flüssignahrung umsteigen sollte. Habe ich mir in dieser Sekunde Sorgen gemacht? Absolut noch nicht. Ich dachte, sie sei vielleicht zu schwach zum aufstehen gewesen und hatte es deswegen nicht geschafft ihr Telefon zu laden. Ich war seltsamerweise ganz ruhig, obwohl ich sonst absolut zur Panik neige. Und auch ich habe in der Sekunde den Messenger gecheckt, den wir beide immer nutzten. Letztes Mal online am 23.3. mittags. Immer noch war ich völlig ruhig. Logisch denken war mein inneres Gefühl. Also ihre Freundin in Dublin kontaktieren. Ich wusste, dass da jemand einen Zweitschlüssel hat. Die Freundin las die Nachricht und ein paar Minuten später die Frage, ob sie anrufen könne. In mir war da noch kurz der Gedanke, dass meine Schwester eventuell nur gestürzt sei. Der aber sofort von einem anderen Gedanken vertrieben wurde. Dass sie von uns gegangen ist. 

Meine Erinnerungen an das Telefonat sind noch da. Auch die restlichen des Tages. Erstmal zusammenbrechen und eine Ewigkeit auf dem Boden liegen und weinen. Geschwister informieren. Kollegen und Chef anrufen. Sofort frei bekommen. Die Freundin kontaktieren, die mich morgens angeschrieben hatte. Versuchen einige andere Menschen zu kontaktieren. Schnell realisieren, dass es zu viele Menschen sind und ich keine Kontaktdaten habe. Abends einen Facebook Post verfassen, um damit möglichst viele Menschen zu erreichen. Der Mann beendet seinen Arbeitstag und kommt vorbei, um mich zu unterstützen. Immer wieder weinen. Abends mit wunden Augen ins Bett, wieder weinen. Schlafen, Freitag morgen aufwachen, realisieren was geschehen ist, und wieder weinen. Eine andere Freundin meiner Schwester anrufen, sagen was passiert ist. Erneut weinen. Mittags den Bruder treffen. Wir können nicht einfach nach Irland, es sieht aktuell immer noch so aus, als hatte meine Schwester kein Testament bzw. keinen letzten Willen. Ihre Freundinnen vor Ort unterstützen uns unglaublich. Sie fangen an Sachen in der Wohnung zusammen zu packen, schicken uns Dokumente und gucken nach einem Bestatter. Schnell ist klar, dass es aktuell nur eine Online Zeremonie geben kann.

Seit Monaten quälte mich die Befürchtung, meine Schwester nicht mehr lebend zu sehen. Sie nicht mehr umarmen zu können und einfach persönlich Zeit mit ihr zu verbringen. Das ständige Gefühl, dass uns die Zeit davon rennt. In den letzten Wochen ganz besonders. Die Befürchtung ist zur Realität geworden. Ebenso sind wir mit der Tatsache konfrontiert, dass nichts geregelt ist. Ich kontaktiere die Immobilien Agentur (bezüglich der Wohnung), Stromanbieter, Mobilfunkunternehmen und die Bank. Außerdem die deutsche Botschaft. Alle sind wahnsinnig hilfsbereit. Und ich lerne viel. Meine Schwester fällt nicht unter das deutsche Erbrecht, sondern unter das irische. Was vieles für uns erleichtern wird. Wie soll die Bestattung sein? Meine Schwester hat immer gesagt, dass sie eingeäschert werden will. In Irland darf die Asche danach mitgenommen werden. Schnell ist die Idee geboren, sie ins Meer zu verstreuen. Wenn wir irgendwann in der Zukunft wieder reisen können. Ist es das, was sie gewollt hätte? Immer wieder die Frage, ob wir alles in ihrem Sinn machen. Irgendwann das Gefühl der vollkommenen Überlastung. Ich spreche am besten Englisch und damit übernehme ich vieles. Eigentlich habe ich Urlaub. Ich muss jetzt durchhalten. Und vergesse darüber hinaus, tagelang zu trauern. 

Mittwoch, 6 Tage nach der Nachricht, ein Termin bei meiner Therapeutin. Mit der Erkenntnis, dass ich auch mal stopp sagen darf. Aus Gründen des Selbstschutzes. Meine Therapeutin ist wahnsinnig mitfühlend und im Laufe des Tages kann ich endlich wieder weinen. Etliche Leute melden sich bei mir. Ihre irischen Arbeitskolleginnen und Freundinnen bringen mir so viel Liebe entgegen, dass mein Herz überläuft. Wir sitzen alle im gleichen Boot. Erfüllt von Trauer und Schmerz. Wir müssen damit umgehen, dass sie gegangen ist. Von einem Tag auf den anderen. Sie hat den Tod bekommen, den sie sich immer gewünscht hat. Friedlich im Schlaf. Sie hat sogar ein kleines Lächeln auf den Lippen gehabt. Der verfickte Krebs hat sie bis zum Ende nicht klein bekommen. Sie hat ihm im Tod noch ihr Lächeln gezeigt. Dass sie sich nicht mehr quälen muss, ist ein Trost. Wenn auch nur ein verdammt kleiner. Wir hätten sie alle lieber wieder zurück.

Stand heute: Noch keine Freigabe durch den Gerichtsmediziner. Fotos für die Trauerfeier zusammengesucht. Es müssen noch Papiere für den Bestatter ausgefüllt werden. Die Erkenntnis, dass Iren einfach unglaubliche und wahnsinnig warmherzige Menschen sind. So viele Dinge sind in den letzten Tagen passiert, die in Deutschland undenkbar wären. Immer wieder Momente, in denen ich meiner Schwester schreiben will. Um dann zu realisieren, dass ich es nie wieder kann. Den Schmerz zulassen. Weinen, wütend sein, diese ganze Pandemie verfluchen. Hoffen, dass wir irgendwann fliegen können, um Abschied zu nehmen und sie auf die letzte Reise zu schicken. Überrannt werden von allen Nachrichten und Emotionen. Feststellen, dass es auch in dieser Situation diese eine Person gibt, die das Feingefühl eines Holzhammers hat. Versuchen auch damit umzugehen. Ab morgen wieder arbeiten, um etwas Routine und Alltag zu bekommen. Was in den letzten Wochen verhasst war, aber jetzt dringend benötigt wird. 

Was ich aus dieser Situation mitnehme? Ich kann viel mehr, als ich denke. Ich habe das Recht, Grenzen zu ziehen. Und ich sollte dringend etwas von der Attitüde meiner verstorbenen Schwester übernehmen.

Worte können nicht ausdrücken, wie sehr sie mir fehlen wird. Auch wenn wir uns seit Juli 2019 nicht mehr gesehen haben. Seit ich geboren wurde, war sie da. Zwischendurch im Ausland. Aber auch da ist unser Kontakt nie abgebrochen. Wir haben beide unsere Fehler, aber wir haben einander viel bedeutet. Sie hat mich so oft darauf gestoßen, nicht immer alles so schwer zu nehmen und Dinge auch mal leichter zu sehen. Das Loch, welches sie hinterlässt, ist unglaublich riesig. Und ich hoffe, dass wir alles zu ihrer Zufriedenheit regeln werden. So dass sie stolz auf mich wäre. Vielleicht will sie mir auch einfach nur zeigen, was wirklich in mir steckt. Ich weiß, dass sie jetzt in Frieden ruht. Und das ist das einzige, was mich in dieser Situation tröstet: Krebs hat weder ihren Lebenswillen, noch sie selbst brechen können