Ein Text über Schuld. Meine letzten Schuldgefühle beziehen sich auf meine verstorbene Schwester.
Das Jahr ist schon ein paar Tage alt und ich versuche, seit letzter Woche, über etwas zu schreiben, das mich beschäftigt. Ich habe mich an den Satz meiner Therapeutin erinnert, dass meine Essstörung eine Art von Selbstverletzung sei. Und während ich meine Wohnung putzte, kamen ein paar Gedanken hoch. Über Schuldgefühle und über Dinge, die ich ganz allgemein fühle. Wofür fühle ich mich schuldig?
Meine Schwester war ein Mensch, der wusste wie man das Leben lebt und liebt. Ist viel gereist und hat Dinge erlebt. Ich dagegen finde, spätestens seit meiner Pubertät, das Leben anstrengend. Ich springe nicht mehr mit meinen beiden Beinen voran, sondern gehe Schritte zurück. Sehr viele Schritte. Bitte nicht viele Menschen und bitte keine großen Reisen. Ich bin nicht lebenslustig, sondern des Lebens müde. Sehr oft. Und ich fühle mich schuldig, weil sie gehen musste obwohl sie am Leben hing. Seit der Nachricht, dass sie weder Krebs hat, bin ich komplett in die Eßstörung zurück gefallen. Weil ich innerlich wusste, dass sie sterben würde. Dieses weiter zu leben und dieses Lebens so müde zu sein, während ein anderer Mensch voller Leben gehen musste, fühlt sich seltsam an. Ich versuche damit meinen Frieden zu machen und mich weniger schuldig zu fühlen.
In den letzten Monaten und Jahren sind noch ganz andere Gedanken aufgekommen, wegen denen ich mich schuldig fühle und die haben natürlich auch mit meiner Familie zu tun. Ich bin als Nachzüglerin in eine dysfunktionale Familie geboren. Im Gegensatz zu meinen Geschwistern habe ich die häusliche Gewalt, die Zuhause geherrscht hat, nicht mehr mitbekommen. Ich habe Jahre meiner Kindheit als friedlich und auch geborgen in Erinnerung. Es gab Momente, in denen mir meine Mutter nahe war. Und es gab auch Momente, in denen mein Vater mir nah war. Aber ich wurde bereits sehr früh in meiner Kindheit mit verschiedenen Geschichten bezüglich meiner Eltern, besonders meiner Mutter, konfrontiert. Und ja, ich habe auch die Spuren der häuslichen Gewalt an meiner Mutter gesehen. Mein Vater war Alkoholiker und psychisch krank. Das ist eine Feststellung, keine Entschuldigung. Obwohl ich in meiner Kindheit nie etwas mitbekommen habe und es dort keine Ausbrüche gab, trage ich Dinge mit mir rum. Ich kann keine besoffene Typen ertragen, die aggressiv sind. Es gibt einen bestimmten Ton bei Männern, der innerlich in mir etwas anzündet. Und wenn ein Typ eine Frau blöd anmacht, erschrecke ich wie laut und wütend ich sein kann. Und wie sehr schreien gegen die übermäßige Angst hilft, die mir die Kehle hoch kriecht. Wann immer in meiner Familie über das Thema häusliche Gewalt gesprochen wurde, war ich außen vor. Ich habe nichts davon erlebt. Und wenn man sieht, was es mit den Menschen um dich macht, fühlt man sich auch hier irgendwann schuldig. Weil man Glück hatte. Ich habe immer wieder überlegt, wann meine Essstörung begonnen hat. Es gibt Kindheitsbilder, auf denen ich normalgewichtig bin. Ich erinnere mich aber an folgendes: Je mehr ich von meiner Familiengeschichte wusste, desto schlimmer habe ich mich gefühlt. Weil ich damals dachte, dass es nur in meiner Familie so schlimm ist. Ich habe mich geschämt, für all das was passiert ist. Habe mich seltsamerweise oft dafür verantwortlich gefühlt. Bin zwischen allen Stühlen groß geworden, weil gleich mehrere Seiten an mir gezerrt haben. Vermutlich meinen alle, sie hätten es zu meinem besten getan. Aber es hat eigentlich genau das Gegenteil bewirkt.
Ich hatte irgendwie nie das Gefühl, mich richtig zwischen all diesen Menschen entwickeln zu können. Ich habe noch heute Angst Entscheidungen zu treffen, die sich für bzw. gegen jemanden entscheiden. Aus Angst, dass ich jemandem nicht gerecht werde. Den eigenen Weg zu finden, war und ist immer noch schwer. Weil mir ja alle anderen Wege als leuchtende Vorbilder aufgezeigt wurden. Wie soll ich dann meinen finden? Ich erarbeite mir inzwischen kleine Erfolge und bin ab und zu mal stolz auf mich. Aber auch dann fühle ich mich wieder schuldig. Es ist so schwer aus diesem ganzen Geflecht auszubrechen oder ehrlich seinen Standpunkt zu sagen. Weil dann sofort wieder die Angst kommt, man hätte etwas falsches gesagt. Weil es doch immer nur gut gemeint war. Und dann passieren ja keine Fehler. Ich sage natürlich nichts mehr dazu sage, weil ich mich am Ende nicht wieder schuldig fühlen will. Aber man hätte mir wirklich länger eine unbeschwerte Kindheit gönnen können.